Venedig - die Serenissima

Viel wurde über die Einzigartigkeit der Lagunenstadt mit ihrem Facettenreichtum geschrieben - und doch ist es etwas anderes, wenn man selbst dort ankommt und nur noch staunt: Eine Stadt, in der Prunk und Verfall dicht beieinanderliegen, durchzogen von Kanälen und Kanälchen, auf denen, wie eh, Gondoliere Touristen befördern - auch bei Regen.

Vorbei an ehrwürdigen Palazzi, an denen das Wasser nagt. Autos müssen draußen bleiben, für die ist in diesem Gewimmel an schmalen Gässchen kein Platz.

Ich erinnere mich an den Film "Wenn die Gondeln Trauer tragen", sehe eine zwergenhafte Gestalt in einem roten Mäntelchen durch die Gässchen huschen, über die Brücken, immer am Wasser entlang - im Nebel verschwindend ...

Stadt der Illusionen

Wir sind zur Karnevalszeit da. Der Regen hat sich verzogen und macht einem herrlichen kalten Sonnentag Platz. Unterwegs begegnen uns viele Masken. Die Venezianer lieben das Spiel mit der Identität, spazieren unerkannt durch die Straßen, bleiben stehen, winken huldvoll den sich um sie scharenden Fotografen.

Schnitzlers "Traumnovelle" kommt mir in den Sinn, das Maskenspiel von Fridolin und Albertine, im Film verkörpert von Tom Cruise und Nicole Kidman ...

Volo dell´Angelo

An einem strahlenden Sonntagmorgen erleben wir den legendären Volo dell´Angelo: den Engelsflug.

 

Zu den Klängen von Ave Maria schwebt eine junge Frau mit Engelsflügeln vom Campanile herab auf den Markusplatz, wo Tausende Menschen diesem Spektakel zusehen. Auch wir sind unter den Zuschauern, beobachten, wie der Engel Sternenstaub streut und tauchen ein in eine Traumwelt - halb real, halb Phantasie. Aber die winterliche Kulisse, die ist echt: Die Lagune, der Campanile, die Basilico San Marco, der Dogenpalast und die Seufzerbrücke, über die sich unermüdlich Menschenscharen hinwegbewegen.

Die Seufzerbrücke

Zu Casanovas Zeiten war der Karneval ein ausschweifendes Fest mit prächtigen Kostümen und sehr lockeren Sitten. Nachdem die Festivität zeitweilig in Vergessenheit geraten war, ist es Frederico Fellinis Film Casanova zu verdanken, dass das Maskenfest eine neue Bedeutung erhielt.

Casanova, den angeblich ruhmreichsten Liebhaber aller Zeiten, hatte man seinerzeit in die Bleikammern des Dogenpalastes, dem damaligen Gefängnis, gesperrt. Er war 1755 wegen Gotteslästerung, Freimaurerei, Magie und – wegen Unzucht verurteilt worden. Wie alle Gefangenen musste auch er über die Seufzerbrücke - Ponte dei Sospiri - seinen Weg ins Gefängnis antreten. Die Bleikammern unter dem Dach waren üble Kerkerzellen, die als ausbruchsicher galten - so lange, bis ihr berühmtester Insasse das Gegenteil bewies. Casanova gelang eine spektakuläre Flucht, die er in seinen Erinnerungen ausführlich beschreibt. "Seine herausragende Eigenschaft war Verwegenheit", heißt es in dem lesenswerten Artikel Legendäre Flucht vor 265 Jahren. Wie Casanova den Bleikammern entkam.

Die von Legenden umrankte Seufzerbrücke überspannt den Rio di Palazzo und verband einst die Verhörräume des Dogenpalastes mit dem ehemaligen Gefängnis.

Ihren Namen erhielt diese Brücke im 19. Jahrhundert von dem Dichter Lord Byron, der von einer Legende inspiriert wurde: Diese besagt, dass Gefangene bei der Überführung ins Gefängnis einen Seufzer der Reue ausstießen, während sie ein letztes Mal durch die Fenster der Brücke auf die Stadt blickten.  

Der romantische Dichter Lord Byron stand, was seine amourösen Abenteuer betraf, Casanova in nichts nach. Eine Gedenktafel am Palazzo Mocenigo - vom Canale Grande aus zu sehen - erinnert an seinen Aufenthalt in den Jahren 1818-1819. Hier soll er ein von Skandalen umwittertes Leben geführt haben. Seine Eskapaden hat er in Briefen an Freunde festgehalten. Aber auch in seinem Werk hat er sich von Venedigs Lokalkolorit inspirieren lassen.

In diesem Palast war Rilke häufiger Gast bei der Gräfin Mocenigo, die einen literarischen Salon führte.

Mit Rilke durch Venedig

Rilke kannte Venedig durch viele Besuche. Seine Erzählung Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge spielt zeitweise in Venedig. Viele seiner Gedichte entstanden in der Lagunenstadt.
Das Büchlein Mit Rilke durch Venedig ist unser literarischer Begleiter. In mehrere Spaziergänge eingeteilt, führt es zu Sehenswürdigkeiten, die den deutschen Dichter begeistert haben. Er wollte das Wesentliche dieser Stadt ergründen, hinter die Fassaden schauen. Sprachfunkelnd verdichtete er seine Erfahrungen.

Venedig: Still. Die Schiffer nur erzählen
sich. Die Ruder rauschen sacht,
und aus Kirchen und Kanälen
winkt uns eine fremde Nacht.

Mit Rilke im Kopf wandern wir die Promenade am Basino de Schiavoni entlang, hin zum Castello, einem Arbeiterviertel, bis zu den Gärten, den Giardini, wo man den berühmten Komponisten Guiseppe Verdi und Richard Wagner ein Denkmal setzte. Männer, die auf besondere Weise mit Venedig verbunden sind, die Stadt mit ihren Werken und ihrem Geist geprägt haben. 

Im Castello befindet sich das Arsenal, das von Mauern und Türmen umgeben, einer Festung gleicht. Für die wechselvolle Geschichte der ehemaligen Schiffswerft, die das Rückgrat der Stadt bildete, hat Rilke sich sehr interessiert. Um die Vormachtstellung im Mittelmeerraum zu halten, war Venedigs Bedarf an Schiffen immens. Man war nicht gerade zimperlich: Immer wieder brachen die Venezianer zu Raubzügen auf. Die wertvollen Beutestücke kann man überall in der Stadt bewundern.
Bei Dante ist das Arsenal ein Ort, der in der Hölle liegt und wo im siedenden Pechsee Gauner und Halunken schmoren. Ein Auszug aus seiner Göttlichen Komödie ist links vom Portal zu lesen. Heute befindet sich im Arsenal die Führungsakademie der italienischen Marine.

An diesem Morgen haben sich die Masken das Arsenal als Kulisse auserkoren, um ihre phantasievollen Kostüme zur Schau zu stellen.

Von den vielen prächtigen Palazzi war Rilke begeistert. Wir sehen uns den Palazzo Ca´Rezzonico an, der einst kultureller Mittelpunkt der Stadt war und versetzen uns hinein in das 18. Jahrhundert, das Rilke in Venedig so liebte. Im Jahr 1913 besuchte er zusammen mit seiner Frau Clara den damals privaten Palast, der heute ein Museum ist. Hier ist 1889 der englische Dichter Robert Browning gestorben, den mit Elisabeth Barret Browning eine dramatische Liebesgeschichte verband. Die beiden hatten heimlich geheiratet, weil ihr Vater gegen diese Ehe war. Sie selbst war 1861 in Florenz gestorben. Rilke übersetzte zwei Sonette Elisabeth Brownings ins Deutsche.

In diesem Ballsaal des Palazzo Ca´Rezzonico feierte man einst rauschende Feste und bunte Karnevalsredouten.

Thomas Manns Venedig

Als Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig" erschien, war Rilke einer der ersten Leser. Vom Anfang der Novelle war er begeistert, der zweite Teil jedoch war ihm, wie er schrieb, "nur peinlich".


Bei seinem Aufenthalt im Jahr 1911 wohnte Thomas Mann mit seiner Frau Katia im hochherrschaftlichen Grand Hotel des Bains am Lido. Katia Mann erzählt in ihren Ungeschriebenen Memoiren: "Mit dem 'Tod in Venedig' ist es eine ganz komische Geschichte, insofern als sämtliche Einzelheiten der Erzählung, von dem Mann auf dem Friedhof angefangen, passiert und erlebt sind. Wir fuhren mit dem Dampfer nach Venedig … Gleich am ersten Tag sahen wir diese polnische Familie … mit dem sehr reizenden, bildhübschen, etwa dreizehnjährigen Knaben, der meinem Mann sehr in die Augen stach. Er hatte sofort ein Faible für diesen Jungen, er gefiel ihm über die Maßen, und er hat ihn auch immer am Strand mit seinen Kameraden beobachtet."

Authentisch ist auch, dass die Cholera damals in Venedig ausgebrochen war, was jedoch von beflissenen Stadtvätern vertuscht wurde. Anders als sein Protagonist Gustav von Aschenbach kehrte Thomas Mann der Stadt, in der die Seuche wütete, sofort den Rücken.


Im Hotel des Bains drehte Lucino Visconti die Verfilmung von Manns Novelle im Jahr 1971. Das Hotel war auch einer der Schauplätze des Films Der englische Patient. In diesem Hotel, das im Jahr 2010 geschlossen wurde, starb der russische Tänzer Sergei Pawlowitsch Djagilew, der auf der Friedhofsinsel San Michele begraben ist.

Die Friedhofsinsel San Michele

Zur Friedhofsinsel San Michele fahren wir, wie in diesen Tagen oft, mit dem Wasserboot, dem Vaporetto. Nur eine Station entfernt von der Haltestelle Fondamenta Nuovo erreicht man die Insel, wo in einem Kloster nur einige Mönche leben. Insofern ist es sehr still hier - totenstill.
Wir gehen durch die Gräberreihen hindurch bis zum evangelischen Teil des Friedhofs, wo Ezra Pound begraben ist, der 1972 in seiner Wahlheimat Venedig starb. Ich erinnere mich an sein berühmtestes Gedicht: "In a station of the metro. //The apparition of these faces in the crowd:/Petals on a wet, black bough."

Am Grab des russisch-amerkianischen Dichters und Nobelpreisträgers Joseph Brodsky steht ein Paar, die Frau hält ein Buch in der Hand, aus dem sie laut in russischer Sprache vorliest. Es ist ein relativ neues Grab, auf dem viele Blumen liegen. Der Nobelpreisträger starb im Jahr 1996 in New York, seinem amerikanischen Exil, an einem Herzinfarkt. Jeden Winter kam er nach Venedig. Nach Russland zurückkehren wollte er nicht und wurde deshalb in seinem geliebten Venedig begraben. Den Grabstein zieren kyrillische Buchstaben.

Sein Bändchen "Ufer der Verlorenen", das 1991 erschien, ist eine Hommage an die Serenissima.

Venedig kann sehr kalt sein

Es gäbe noch so viel über Venedig zu berichten, aber das taten und tun die Schriftsteller und Dichter zu Genüge. Natürlich haben wir Donna Leons Commissario Brunetti bisweilen hinter einem der Palazzi hervorlugen und schnell wieder verschwinden sehen - und natürlich erinnere ich mich an den Titel des Highsmith-Romans "Venedig kann sehr kalt sein".

Auch ließen wir uns - wie alle Touristen - an einem sonnig-kalten Sonntagmorgen mit der Gondel durch die Kanäle staken. Das gehört zu Venedig wie so vieles mehr, für das in den wenigen Tagen unseres Aufenthaltes keine Zeit mehr ist.

Um einen letzten Blick über die Stadt zu werfen, setzen wir mit dem Vaporetto zur anderen Seite über, zur Insel San Giorgio Maggiore und fahren mit dem Fahrstuhl hoch auf den Campanile. Diesen Abschiedsblick hat auch Rilke Venedig-Reisenden empfohlen:


Von hier oben sieht man nach allen Seiten hin die Herrlichkeit dieser Lagunenstadt, "die weiter reicht als der Blick. Sie werden da und dort eine Kuppel erraten, einen Turm, das leuchtende Gesicht einer Fassade. Und alles wird schon etwas Unwahrscheinliches haben, etwas Unerreichbares, etwas von einer Vision ..."