Das KZ Buchenwald bei Weimar

„Heimat? Zuhause? Land? . . . Vielleicht wird den Menschen einmal aufgehen, dass dies alles abstrakte Begriffe sind und dass das, was sie zum Leben wirklich brauchen, nichts anderes ist als ein bewohnbarer Ort. Ein solcher Ort wäre wahrscheinlich jede Anstrengung wert.
Zitat des ungarischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Imre Kertész, der Buchenwald überlebte

Einer der Wachtürme

Die Frage, was die Deutschen über die Verbrechen des NS-Regimes wussten und wer dieses Volk, das sowohl einen Goethe als auch einen Goebbels hervorgebracht hat, eigentlich ist, drängt sich nirgendwo so sehr auf wie in der Klassiker- und Kulturstadt.

Acht Kilometer südlich von Weimar entfernt liegt der Ettersberg - lange Zeit ein beliebtes Ziel für romantische Ausflüge. Bis die Nazis im Jahr 1934 begannen, dort ein KZ zu bauen, das von 1937 bis 1945 "betrieben" wurde. Der Wald wurde gerodet. Baracken, Krematorien und Latrinen wurden aufgestellt und mit Stacheldraht umzäunt. "Ettersberg" sollte das KZ heißen. Die Bevölkerung Weimars, der man mitteilte, in diesem Lager würden "Verbrecher umerzogen", sprach sich gegen diesen Namen aus - nicht aber gegen die Sache an sich.
Das Lager "Buchenwald", ein reines Männerlager, war eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden, in dem 266.000 Menschen interniert und mehr als 56.000 ermordet wurden - die genaue Zahl konnte nie ermittelt werden. Nicht jeder Tote konnte identifiziert werden.

Erinnerungen

Es ist ein sonniger Maitag, als ich das erste Mal die so genannte Blutstraße entlangfahre. Alles um mich herum grünt und blüht, Vögel zwitschern, nichts deutet auf das Grauen hin, mit dem ich gleich konfrontiert werde: Mit einem Ort unermesslicher Grausamkeit. Hier ist das Unvorstellbarste geschehen, was Menschen ihresgleichen antun können.

Das Kz-System war flächendeckend

Überall im Deutschen Reich begann man nach Kriegsbeginn zahllose Außenlager zu errichten: Insgesamt gab es 136 Außenlager des Stammlagers Buchenwald. Hitler kam oft nach Weimar. Bei seinen Besuchen stieg er im Nobelhotel "Elephant" am Marktplatz ab. Die Bevölkerung huldigte dem Führer und bat ihn in lauten Sprechchören, sich auf dem Balkon zu zeigen.

Eines der Außenlager von Buchenwald befand sich im Ahrtal: Das Lager Rebstock. Lange Zeit wollte die dortige Bevölkerung nicht daran erinnert werden. Inzwischen wurde auch dort eine Gedenkstätte errichtet - gegen viele Widerstände.

Eugen Kogons "Der SS-Staat", das wohl bekannteste und wichtigste Buch über das Lager Buchenwald, war in der DDR verboten. Kogon, selbst sechs Jahre lang Insasse in diesem Lager, schrieb die Erstfassung bereits im Jahr 1945. Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún - ebenfalls Insasse des Lagers - nannte das Buch den objektivsten und erschöpfendsten Bericht über die Lebens-, Arbeits- und Todesbedingungen in Buchenwald. Semprún verarbeitete seine Lagerzeit in verschiedenen Büchern, wie "Die Große Reise" oder "Was für ein schöner Sonntag". In diesen lebendigen Schilderungen meint man SS-Wachen mit ihren Knüppeln auf dem Caracho-Weg zu sehen, geschundene Häftlinge auf dem Appell-Platz in eisigem Regen und den Rauch über dem Krematorium.
Sehr bekannt ist auch Bruno Apitz´ Roman "Nackt unter Wölfen", der 1958 erschien, in 30 Sprachen übersetzt und das meistverkaufte Buch in der DDR war. Der Roman war Pflichtlektüre an den Schulen und wurde mehrfach verfilmt. Auch Apitz war mehrere Jahre in Buchenwald interniert. Mit seinen heimlich aufgeführten Sketchen und seinem Geigenspiel prägte er maßgeblich die Kultur des Lagers.

Die einzige erhaltene Baracke

"Ein Dschungel der Verwilderung, in den von außen hineingeschossen, aus dem zum Erhängen herausgeholt, in dem vergiftet, vergast, erschlagen, zu Tode gequält, um Leben, Einfluss und Macht intrigiert, um materielle Besserstellung gekämpft, geschwindelt und betrogen wurde."
Eugen Kogon - Der SS-Staat

Die Erfahrungsberichte, die Kogons Buch enthält, schildern eine Hölle, die kein Schriftsteller hätte ersinnen können - auch nicht in seinen finstersten Phantasien.

Ich passiere ein Hinweisschild, das besagt, dass sich hier der alte Bahnhof befand, von dem nur noch wenige Gleismeter erhalten sind. Hier kamen Menschen an, die aussortiert worden waren: Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Zigeuner, Zeugen Jehovas, Kriminelle.

Die Kommandantur

Als erstes gehe ich den sogenannten Caracho-Weg entlang, vorbei an der Kommandantur. Drinnen am Schreibtisch hat der Lager-Kommandant Karl Otto Koch gewaltet. Er steht für die frühe Phase des KZs und den zunächst illegalen Verleih von Zwangsarbeitern. Seine Frau, Ilse Koch, galt als die berüchtigte "Hexe von Buchenwald". Das Paar mit seinen drei Kindern bewohnte eine Villa in unmittelbarer Nähe des Lagers und führte ein luxuriöses Leben, das vor allem durch umfangreiche Unterschlagungen von Bargeldbeträgen und Wertsachen ermöglicht wurde, die Lagerinsassen gestohlen wurden.

Ich stehe vor dem Haupteingang mit der zynischen Inschrift. Über dem Torgebäude zeigt eine Uhr immer dieselbe Zeit an: 15:15 Uhr. Es war am 11. April 1945 um 15:15 Uhr, als die Amerikaner das Lager betraten - vollkommen entsetzt über das, was sie zu sehen bekamen. Um die Glaubhaftigkeit zu beweisen und jeden Verdacht der Manipulation oder Inszenierung zu vermeiden, dokumentierte die US-Army akribisch alles, was sie dort vorfand.

Buchenwald war das erste von einer Armee der West-Alliierten befreite KZ. Im Lager befanden sich noch rund 21.000 Überlebende, viele von ihnen völlig entkräftet und ausgemergelt. Insgesamt waren fast 280.000 Menschen im KZ auf dem Ettersberg und in seinen 139 Außenlagern inhaftiert.

Das Torgebäude

Die Schrift ist von innen zu lesen. Die Häftlinge sollten jeden Tag die Worte "Jedem das Seine" vor Augen haben - für die Nazis eine höhnische Rechtfertigung. Im Ursprung ist dies jedoch ein römischer Rechtsgrundsatz: Jedem das Seine gewähren.

Die Typographie wurde von dem einsitzenden Bauhaus-Architekten Franz Ehrlich entworfen. Die Schrift, die dem Bauhaus-Stil ähnelt und nicht als solche erkannt wurde, ist als leiser Widerstand zu deuten - das Bauhaus galt den Nazis als "entartet".

Ich gehe durch das Tor hindurch, das einst für so viele Menschen den sicheren Tod bedeutet hat. Das Lager ist weitläufig, von den Lagerbaracken sind nur noch Umrisse zu sehen. Insgesamt 50 Baracken standen dort, in denen auf wenigen Quadratmetern mehrere hunderte Personen vegetierten. Eine einzige Baracke ist original erhalten.

Die Hölle von Buchenwald auf 200 Hektar ausgedehnt - ein riesiger Lagerkosmos, zu groß, um alles in wenigen Stunden zu durchstreifen. So viel blutgetränkte Erde. So viel unvorstellbares Leid.

Um das Lager herum verläuft ein Zaun, der damals unter Starkstrom stand. Aus dem Lager kam niemand lebend heraus, wird betont. Manche sind bewusst gegen den Zaun gerannt, weil sie das alles nicht mehr aushielten, den Hunger, die Schikanen, die schwere Arbeit, die mangelnde Hygiene. Fließendes Wasser gab es keins. Jedem Häftling stand eine gewisse Ration Wasser zu, die reichte gerade zum Trinken, nicht für die Körperhygiene. Das Ergebnis waren Läuse, Wanzen, Krätze, Ekzeme. Kleidung konnte nicht gewaschen werden.

Die Verbrennungsöfen im Krematorium

Ich gehe zur Pathologie und ins Krematorium. In der Pathologie wurden den Toten die Goldzähne ausgebrochen. Im Keller des Krematoriums sieht man die Wandhaken, an denen Menschen erhängt wurden. Primitive SS-Mannschaften und ihre Vorgesetzten, die sich selbst als Herrenmenschen sahen, übten hier unbegrenzte Macht und immer neue Verbrechen aus. Die von der Firma Topf & Söhne in Erfurt hergestellte Verbrennungsanlage war speziell für die Bedürfnisse der SS konzipiert worden. Häftlinge mussten die Arbeit verrichten.

Ich stelle mir die Insassen vor, die unter unmenschlichen Bedingungen zu solcher und anderer Arbeit gezwungen wurden, höre das Gekläff der stets anwesenden Schäferhunde und frage mich, wie man so etwas überleben konnte - körperlich und seelisch.

Irgendwann kann ich nicht mehr. Ich muss hier weg. Von diesem Ort der Beklemmung.

Das Krematorium von außen

Zu Hause schaue ich mir Dokumentationen an, lese über Buchenwald und seine Geschichte. Erfahre, dass Weimarer Bürger auf Befehl des amerikanischen Stadtkommandanten das Lager besichtigen mussten, in dem die Spuren des Massensterbens und der Gräuel allzu sichtbar waren.

Filmaufnahmen zeigen lachende, fröhliche Menschen auf dem Weg zum Ettersberg - als sie aus dem Lager herauskommen, steht ihnen das Grauen im Gesicht. Man hat sie gezwungen, an Leichenbergen vorbeizugehen, dem Krematorium, an Baracken voller ausgemerkgelter halbtoter Menschen. Ein Offizier, der die Bürger durch das Lager führt, bemerkt, dass sie mehr als sieben Jahre unter den Rauchschwaden des Krematoriums gelebt haben. Und meint: So etwas kann man unmöglich übersehen haben.

Die Dokumentaraufnahmen aus den Konzentrationslagern der Nazis spielten in den kommenden Jahren eine große Rolle bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Auch wurden sie als Beweismittel in die Nürnberger Prozesse eingebracht. Die Angeklagten wurden gezwungen, sich alles anzusehen - und reagierten entsprechend erbärmlich auf die Gräuel: Niemand der Angeklagten zeigte Reue. Stets redeten sie sich mit der immergleichen Antwort heraus: "Befehl ist Befehl!" Niemand fühlte sich wirklich schuldig oder verantwortlich.

Auch der Kriegsverbrecher Adolf Eichmann beteuerte, er sei im Sinne der Anklage nicht schuldig. Angeklagt des millionenfachen Mordes erschien der ehemalige SS-Obersturmbannführer am 11. April 1961 vor dem Bezirksgericht in Jerusalem. "Mein Wille war nicht, Menschen umzubringen", sagte er in seinem Schlusswort. Er hatte sich unter dem Namen Riccardo Klement in Argentinien versteckt, wo er 1960 von israelischen Geheimagenten aufgspürt wurde. Als gnadenloser Schreibtischtäter organisierte er die Transporte in die Vernichtungslager und sorgte für eine in den Augen der NS-Mörder zufriedenstellende Auslastung der Gaskammern in den Konzentrationslagern. Auch dieser SS-Obersturmbannführer, hauptverantwortlich für die so genannte "Endlösung", stritt seine Taten zwar nicht ab, bekannte sich aber "nicht schuldig" im Sinne der Anklage. Hannah Arends Buch über den Prozess "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" wurde weltweit berühmt. 

Ein zweites Mal komme ich im Herbst 2018 in das KZ Buchenwald. Diesmal nehme ich mir mehr Zeit. Suche die Fundamente der Villa, in der die Kochs gelebt haben, den Zoo mit dem Bärenzwinger, den sie mit ihren Kindern besuchten, während hinter dem Lagerzaun Ungeheuerliches geschah. Die Frau des Lager-Kommandanten, Ilse Koch, war berüchtigt für ihre Grausamkeiten gegenüber Gefangenen. Man sagte ihr ein sadistisches Naturell und sexuelle Abartigkeit nach. Ihren Mann soll sie zu Gewalttaten angestiftet haben. Doch 1943 endete für Ilse Koch das privilegierte Leben der Kommandantengattin auf dem Ettersberg. Am 25. August 1943 wurde Karl Koch von einem Sonderkommando verhaftet und in die Gestapo-Zentrale nach Weimar gebracht. Einen Tag später nahm man auch Ilse Koch fest. Auf ihrem Konto befanden sich 25.000 Reichsmark. Sie wurde jedoch wegen Mangels an Beweisen vom SS-Gericht freigesprochen, weil es nicht zu beweisen gelang, dass sie sich als "Lagerkommandeuse" bereicherte. Ihr Mann hingegen wurde wegen Hehlerei, Mord und Betrug zum Tode verurteilt und im April 1945 im Lager Buchenwald hingerichtet.


Es ist wichtig, dass solche Gedenkstätten erhalten bleiben. Die daran erinnern, was nie wieder geschehen darf. Die an unsere Verantwortung appellieren.
Weggucken geht einfach nicht.

„Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.“
           Jorge Semprún
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2023: Weimar

Ausstellung zum 100. Geburtstag von Jorge Semprún

Der gebürtige Spanier Jorge Semprún wurde am 10. Dezember 1923 geboren. In diesem Jahr würdigt die Stadt Weimar Leben und Werk des Schriftstellers mit der Ausstellung "Jorge Semprún – ein europäisches Leben im 20. Jahrhundert" in der Anna Amalia Bibliothek (8. Dezember 2023 bis 29. Februar 2024).
Im Zweiten Weltkrieg wurde der Schriftsteller in einem Viehwaggon nach Buchenwald deportiert. Verarbeitet hat er die Zeit im Konzentrationslager in kraftvollen literarischen Bildern und Gedanken.
Zuvor hatte er in der Résistance gegen die Nazis gekämpft. Sein Leben lang blieb er dem Kampf für menschliche Würde und für die Freiheit verpflichtet.
Im Jahr 1988 - nachdem Spanien die Franco-Diktatur überwunden und Jahre später die EU-Mitgliedschaft erlangt hatte, wurde Semprún zum Kulturminister berufen.
"Was es heißt, Europäer zu sein", so lautet der Titel eines seiner letzten Bücher. Darin heißt es, die größte Gefahr für Europa sei Überdruss.