Das Tessin - Monte Verità und Montagnola

Auf den Spuren von Hermann Hesse

Montagnola - das klingt nach Geheimnis, nach Entdeckungslust, nach Zauber. Das Dorf in den Tessiner Bergen - Hermann Hesses letzte Wahlheimat - stand lange Zeit ganz oben auf der Liste meiner Sehnsuchtsorte. Im Sommer 2012 habe ich die Gegend besucht. Nun ist es ein Ort geworden, an den ich mich gerne erinnere - mit Hermann Hesse im Geiste.

 

Monte Verità - der Berg mit Seele

Hesses erster Besuch ins Tessin datiert auf das Jahr 1907, als er sich während einer vierwöchigen Kur auf dem Monte Verità bei Ascona am Lago Maggiore aufhielt.  Der Monte Verità, ein legendenumwobener Hügel  - "Der Ort, an dem unsere Stirn den Himmel berührt ..." war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Enklave, in der Aussteiger, Künstler, Intellektuelle und auch ein paar Spinner alternative Lebensformen ausprobierten.  Sie liefen häufig nackt herum und regten die Phantasie der Einheimischen an, die die illustre Truppe argwöhnisch beobachteten.

In seinen Erzählungen "In den Felsen" und "Der Weltverbesserer" spiegeln sich Hesses Erfahrungen mit den "Naturmenschen" und der Landschaft des Monte Verità.  In letzerer erzählt er ironisch eingefärbt von einem "halb nackten Vegetarier, der außer einiger Arbeitsscheu keine Laster" hat.  Doch das Leben dort übte auf den späteren Literaturnobelpreisträger unverkennbar einen besonderen Reiz aus.

Als wir am Monte Verità ankommen, dem "Berg mit Seele", wie er auch genannt wird, wirkt die Örtlichkeit wie ausgestorben. Inzwischen wurde das Gelände zu einem "Kulturzentrum" umfunktioniert, doch an diesem Tag  ist keine Menschenseele zu sehen. Also treten wir unsere Entdeckungsreise auf eigene Faust an, hüpfen über grasbewachsene Steinplatten, gehen über hölzerne Treppenstufen zwischen den kleinen Holzhäusern und Wohnhütten hindurch und spähen in deren verschlossenes Innere. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Menschen damals hier lebten und nach einer Erfüllung suchten, die sie im bürgerlichen Leben nicht finden konnten. Die Wahrheit, so glaubten sie, lag in der Beschränkung, in der Selbstbestimmung, in der Ausgestaltung des eigenen Seins. Das versuchten sie zu leben.

Vor meinem inneren Auge sehe ich Mütter mit Säuglingen an der Brust, Menschen mit wallendem Haar in weißen Leinenkitteln, die sich in Trance rhythmischen Bewegungen hingeben. Frauen und Männer, die miteinander musizieren und tanzen, Gemüse anbauen, Holz sägen und Körbe flechten, oder einfach nur philosophieren und das Leben genießen. Alles unter einer milden Sonne in mediterranem Klima, unbehelligt von zivilisatorischen Zwängen. Aber ich frage mich, ob sie das wahre Glück, das sie suchten, wirklich hier fanden.

Von Ascona nach Montagnola

Weiter geht es die Berge hinauf. Lugano hinter uns lassend, schlängeln wir uns ein enges, kurviges Sträßchen hoch. Den etwa einstündigen Fußweg von Lugano nach Montagnola ist Hesse oftmals gegangen. Auf einem Bergrücken in den Collina d´Oro, den goldenen Hügeln liegt der Ort Montagnola.

Das Hermann-Hesse Museum wurde 1997 in den Räumen der Torre Camuzzi errichtet - in direkter Nachbarschaft zu der pittoresken Casa Camuzzi, "dieses schöne wunderliche Haus",  in dessen Räumlichkeiten Hesse von 1919 bis 1931 in einer Wohnung mit weitem Blick über den Luganer See lebte. Kurz nach dem ersten Weltkrieg zog er sich in "diese entlegene Ecke in der Schweiz zurück und wurde Einsiedler", wie er schrieb. Da hatte er gerade seine psychisch kranke Frau Mia Bernoulli und die drei kleinen Söhne verlassen. Das Leben dort oben in den Tessiner Bergen empfand er, der ebenfalls psychisch angeschlagen war, als Befreiung und als Wohltat.

Die verwinkelte, mit zahlreichen Erkern und Türmchen geschmückte Casa Camuzzi liegt im alten Dorfkern. Hohe Platanen beschatten den Vorplatz. In der Nähe wohnten Hugo Ball und dessen Ehefrau Emmy Ball-Hennings, die Hesse oft besuchte.

In der Casa Camuzzi schrieb er die Werke "Klein und Wagner", "Klingsors letzter Sommer", "Siddharta", "Narziss und Goldmund" sowie zahlreiche Betrachtungen und Gedichte. Und er malte. "Die glühenden Tage wanderte ich durch die Dörfer der Kastanienwälder, saß auf dem Klappstühlchen und versuchte, mit Wasserfarben etwas von dem flutenden Zauber aufzubewahren", heißt es in seiner "Erinnerung an Klingsors Sommer".

Wir wandern durch die Räume des Museums, betrachten Gegenstände, die ihm gehörten, seine Schreibmaschine, in der noch ein Blatt steckt mit einer Seite aus dem "Glasperlenspiel", seinem letzten Roman. Die Maschine steht auf dem Schreibtisch mit Blick aus dem Fenster. Sein Malkasten samt Palette findet sich hier, ebenso wie viele Fotos von ihm, dem hageren Mann mit der runden Nickelbrille: Hesse mit Strohhut, beim Malen, bei der Gartenarbeit. Hesse zwischen Gießkannen und Körben, Hesse im weißen Leinenanzug in Indien.

Im Untergeschoss informiert ein Film über sein Leben, seine Frauen und  Söhne, seine Literatur.  Vieles in seinem Leben zeugt von Unruhe, von innerer Zerrissenheit, von der Suche nach einem Sinn. Hesse war Autodidakt, hatte weder Abitur noch hatte er studiert. Obwohl drei Mal verheiratet, liebte er die Einsamkeit. Mit seiner dritten Frau, Ninon, lebte er zuletzt zurückgezogen in der Casa Rossa - nur zehn Minuten zu Fuß von der Casa Camuzzi entfernt. Das Haus existiert noch, ist aber inzwischen weiß angestrichen und in Privatbesitz. Dort hatte er am Gartenzaun ein Schild befestigt: "Bitte keine Besuche".

Das Treiben im Deutschen Reich beäugte er, der inzwischen Schweizer Staatsbürger war, äußerst kritisch. Kurz nach dem Krieg erhielt er den Literaturnobelpreis, seine Bücher, von den Nazis als "volksfeindlich" deklariert, erreichten Weltruhm. In den USA gab es einen regelrechten Hesse-Boom, nicht zuletzt deshalb, weil er existenzielle Fragen artikulierte. In Deutschland jedoch wurde er bisweilen harsch kritisiert und seine Bücher wurden als "weltfremder Katzenjammer eines Innerlichkeitsapostels" verspottet.

Zu seinen drei Söhnen hatte er zeitlebens ein distanziertes Verhältnis. "Die ganze Welt hat Rat bei meinem Vater gesucht. Aber für die Kinder war er kaum greifbar", hat sich einmal sein Sohn Heiner, der den Nachlass verwaltete, geäußert.

Wegen zunehmender gesundheitlicher Probleme zog Hesse sich mehr und mehr vom öffentlichen Leben zurück. Über vierzig Jahre lebte er im Tessin. "Hier scheint die Sonne inniger, und die Berge sind röter, hier wächst Kastanie und Wein, Mandel und Feige, und die Menschen sind gut, gesittet und freundlich ...", schrieb er über seine Wahlheimat. Hermann Hesse starb am 9. August 1962 in der Casa Rossa in Montagnola.Zur Beerdingung am 11. August kam auch der Schriftsteller Erich Kästner.

Der Friedhof Sant´Abbondio in Gentilino

Beerdigt wurde er auf dem Friedhof  Sant´Abbondio im nahegelegenen Gentilino, wo auch seine Freunde Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings ihre letzte Ruhe fanden.

Überall in Montagnola wird auf den berühmten Dichter verwiesen. Es gibt eine "Via Hermann Hesse" sowie etliche ausgeschilderte Rundgänge, die im Ort herum und aus dem Ort herausführen. Allzu gern hätte ich mich auf einen längeren Spaziergang begeben, doch leider ist unsere Zeit zu kurz. Aber es reicht noch zu einem Cappuccino im Literaturcafé Boccadoro, wo wir unter den Arkaden sitzen und auf das Museum blicken, bevor wir uns zum Grab von Hermann Hesse aufmachen und endgültig Abschied nehmen von diesem Zauberort.

Hier finden sich weitere Informationen zu Hermann Hesses Leben im Tessin