Arles - Die Vincent-van-Gogh-Stadt

 

Das südfranzösische Arles war eine der Stationen während meiner Schiffs-Lesereise auf der Rhône im Sommer 2016. Ein Jahr zuvor feierte man das "Van-Gogh-Jahr". Nicht selten war in den Berichterstattungen darüber vom großen "Verrückten der Malerei" die Rede. Einig ist man sich darin, dass er Zeit seines Lebens verkannt wurde.

In der Hafenstadt in der Provence begegnet man überall dem Maler, der hier seine schaffensreichste Zeit verbrachte: An zahllosen Postkartenständen, bei einem van-Gogh-Rundgang, und neuerdings auch in einem eigens für den berühmten Bewohner der Stadt errichteten Museum. Das gelbe Haus an der Place Lamartine, in dem er wohnte, wurde zwar bei einem Bombenangriff der Alliierten am 25. Juni 1944 zerstört, aber sowohl dessen Äußeres als auch das Interieur ist aufbewahrt in etlichen Gemälden.

Depressiver Künstler

  van Gogh als Postkartenmotiv

Der Holländer van Gogh kam im Februar 1888 nach Arles des berühmten Lichtes wegen. In einer furiosen Schaffensphase hat er blühende Gärten gemalt, flirrende Sonnen, Sternennächte und auch das Bild, das jedes Kind kennt: Die Sonnenblumen. Nur 15 Monate hat er in dieser Stadt gelebt. Es war ein unruhiges Leben voller Schaffenskraft und Dramatik - Vincent van Gogh war kein einfacher Zeitgenosse.

Sternennacht - Starry Night

zahlreiche Postkartenmotive

Hochsensibel war er. Besessen. Depressiv. Leidenschaftlich. Und er hatte einen Drang zum Zerstörerischen. Damit hat er etwas gemeinsam mit einer Künstlerin, mit der ich mich intensiv beschäftigt habe: Die amerikanische Lyrikerin Anne Sexton (1928-1974). Ihr Gedicht "Starry Night" wurde von van Goghs  "Sternennacht" inspiriert. (Nebenbei bemerkt: Das Bild ist heute geschätzt weit über 100 Millionen Dollar wert). In der Zeit seiner Entstehung befand sich Anne Sexton - nicht zum ersten Mal - in einer Lebenskrise und suchte inständig nach einem Halt, einer Orientierung. In dem Maler sah sie einen Wesensverwandten, in dem Motiv des sternenübersäten Nachthimmels keine romantische Assoziation, sondern Ausdruck dunkler emotionaler Turbulenzen.

The town is silent. The night boils with eleven stars.
Oh starry starry night! This is how
I want to die.

Ans Sterben hat auch van Gogh oft gedacht - allerdings nicht, wenn er malte. Wenn ihn die Alpträume besonders plagten, hat er dem Absinth in einem unguten Maße zugesprochen. Seine Bilder wollte kaum jemand kaufen. Ohne die Unterstützung seines Bruders Theo hätte er nicht existieren können. Ganze zwei Gemälde ist er zu Lebzeiten losgeworden - für einen lächerlichen Preis. Dass sie heute zu den teuersten Gemälden der Welt zählen und für mehrstellige Millionenbeträge gehandelt werden, gilt als Ironie des Schicksals.

Das gelbe Haus - Maison Jaune

In diesem Haus an der Place Lamartine hat van Gogh zwei Monate lang zusammen mit Paul Gauguin gelebt. Es war nicht die feinste Gegend damals, hier tummelten sich Huren und Bettler. Das schmuddelige Gässchen, in dem das gelbe Haus stand, ist irgendwann vollständig abgerissen worden und einer Avenue gewichen.
Hier entstanden - neben vielen anderen Bildern - 5 verschiedene Versionen seines Schlafzimmers, das sehr einfach eingerichtet war. Gemalt hat er die Bilder aus dem Gedächtnis während seines Aufenthaltes in der Nervenheilanstalt Saint-Rémy.

Wieder auferstanden ist das Schlafzimmer im gelben Haus in einer Multimediashow "Van Gogh Alive", die ich im März 2022 besuchte. Hier wurde das Gemälde in einem Studio in Hamburg-Altona durch eine Installation nachgebaut und somit plastisch erfahrbar:

 
„Van Gogh – The Immersive Experience“ in Hamburg, März 2022

Die beiden Freunde Gaughin und Van Gogh arbeiteten viel im Freien und malten die gleichen Motive, darunter auch den Garten des Hôtel Dieu, des städtischen Krankenhauses. Sie waren sich in vielem uneins, haben intensiv diskutiert und gestritten. Einmal sind sie derart aneinander geraten, dass der Holländer den Franzosen beinahe umgebracht hätte. Dabei hatte van Gogh die Ankunft des geschätzten Kollegen voller Ungeduld erwartet.

Was während dieser acht Wochen zwischen den Freunden geschah, ist bis heute nicht vollständig geklärt, obwohl zahlreiche Forscher vieles daran gesetzt haben,  Licht ins Dunkel zu bringen. Überliefert ist, dass Vincent van Gogh, der sich zeitweise selbst als "verrückt" bezeichnete, im Dezember 1888 nach einem weiteren heftigen Streit mit Gauguin selbst sein linkes Ohr abschnitt. Das hat er, eingewickelt in Zeitungspapier, zu dem Barmädchen Rachel in ein nahegelegenes Bordell gebracht. Am nächsten Morgen wurde er inmitten einer Blutlache in seinem Bett aufgefunden, worauf man ihn ins Krankenhaus Hôtel Dieu brachte. Gauguin ist noch am selben Tag abgereist. Die ehemaligen Freunde haben sich nie wieder gesehen.

In Arles entstanden auch van Goghs berühmte Sonnenblumen-Bilder: Mehrere Versionen malte er als Ausstattung für das „Gelbe Haus“ rund um seinen Nervenzusammenbruch. Heute befindet sich die komplette Sonnenblumen-Serie im Amsterdamer Van-Gogh-Museum. Weil die niederländigschen Experten herausfanden, dass die Bilder sensibel auf UV-Licht und sich verändernde Luftfeuchtigkeit reagieren, das den Farben schadet, werden sie wohl für immer dort bleiben und dürfen nicht mehr ausgeliehen werden.

Der Hospitalgarten des städtischen Krankenhauses Hôtel Dieu

  Garten Hôtel Dieu, Arles

Ich schlendere durch den Garten mit seinen vielen blühenden Blumen. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Das Areal ist noch immer so angelegt wie auf den Bildern van Goghs. Nach einem kurzen Aufenthalt in diesem Krankenhaus ist er auf eigenen Wunsch in die unweit gelegene Nervenheilanstalt Saint-Paul-de Mausole in Saint-Rémy-de-Provece übergesiedelt.  Dort malte er - unter anderem - die Sternennacht.

"Ich will in den Farben das Leben suchen", sagte er einmal. Nicht nachbilden wollte er, sondern erforschen. Kunst war für ihn ein Medium, seine innersten Empfindungen zu verarbeiten. Mit seiner Art des Malens inspirierte er viele Künstler. Auch der Sänger Don McLean wurde von van Goghs Farbströmen zu dem Song "Starry Starry Night" inspiriert:

... Now I think I know
What you tried to say to me
And how you suffered for your sanity ...

Viele Legenden ranken sich um den Maler. Die Geschichte um das abgeschnittene Künstlerohr und das Barmädchen fasziniert noch heute und gibt immer wieder zu neuen Spekulationen Anlass. Es wird gar behauptet, dass sich van Gogh nicht selbst verstümmelt habe – Paul Gauguin sei es gewesen ... Diejenigen, die diese Fragen eindeutig beantworten könnten, haben uns jedoch mehr hinterlassen als eine verrückt anmutende Geschichte: Wunderbare Werke, die ihresgleichen suchen.

Malen und Sterben

Auch um van Goghs Tod ranken sich etliche Spekulationen. Er starb am 29. Juli 1890 - zwei Tage nachdem ihm eine Schusswunde zugefügt wurde. Die Spekulationen, ob es sich dabei um Selbstmord, Unfall oder gar Mord handelte, halten an.

In seinen zahlreichen hinterlassenen Briefen findet sich eine Fülle von Hinweisen auf sein malerisches Werk. Hauptsächlich mit seinem Bruder Theo, der ihn zeitlebens unterstützte und der als Vincents engste Bezugsperson galt, hat er einen regen Briefwechsel geführt.

In einem Brief hat sich Anne Sexton, die sich ihrerseits mehrfach in Nervenheilanstalten aufhielt, folgendermaßen geäußert: "... the only other interesting thing (is) a picture that van Gogh painted at the nut house. It´s lovely. It writhes. It makes me want to stand out there with him taking my sleeping pills. Or maybe delay them for an hour or two and converse with him or be silent with him, whichever he felt like."

Kunst und Wahn, mentale Gesundheit und Krankheit liegen dicht beisammen. Wir Menschen würden so gerne alles ergründen, für alles Antworten finden, doch wir sollten uns darauf konzentrieren, dass uns die Künstler ihre wunderbaren und manchmal auch rätselhaften Werke hinterlassen haben, die dazu einladen, sie auf dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen immer wieder mit neuen Augen zu betrachten.

Mit diesem Bewusstsein bin ich durch diese Stadt geschlendert, in Gedanken daran, dass auf ebendiesen Wegen van Gogh einst gegangen ist. Dass er seine Staffel am Ufer der Rhône aufstellte und dem Fließen des Wassers zuschaute, dass er im Hospital in einem Krankenzimmer gelegen hat und auf den Garten hinaussah oder hinauf zu dem nächtlichen Sternenhimmel, und wie er seine Wahrnehmungen auf solch unvergleichliche Weise in Bilder gebannt hat, die uns immer wieder in Staunen versetzen.

Der Mythos lebt weiter

In den darauffolgenden Jahren habe ich immer wieder festgestellt, wie hochaktuell Vincent van Gogh geblieben ist. Zahlreiche Bücher und Filme beschäftigen sich mit seinem Leben.

Im Sommer 2017 wird "Loving Vincent" der Weltöffentlichkeit präsentiert - ein hochgelobter Animationsfilm in Spielfilmlänge, bei dem Bild für Bild Szenen in Öl im Stil van Goghs nachgemalt wurden. In dem Film erwachen seine Bilder zum Leben. Im Abspann werden die Gemälde van Goghs mit jenen im Film verglichen.

Ein weiterer Film über van Gogh erschien im März 2019 "An der Schwelle zur Ewigkeit". Der Filmemacher Julian Schnabel, selbst Maler, hat den vielen Filmen über van Gogh einen weiteren hinzugefügt: William Dafoe nähert sich dem Mythos mit den Augen eines Künstlers. "Da steckt irgendwas in mir drin, was rauswill", sagt er einmal. Besonders faszinierend für mich ist das Wiedersehen mit der südfranzösischen Landschaft, das die Kamera bildgewaltig einfängt. Schnabel sagt, er wolle zeigen, wie die Natur auf van Gogh wirkte und wie schließlich Gemälde daraus wurden. Gleichzeitig versucht er dabei das Chaos in dessen Seele einzufangen.

Denkmal in Arles

Oktober 1919 - Februar 2020: Die Ausstellung "Making van Gogh" im Frankfurter Städel sorgt für einen neuen Rekord. Mehr als eine halbe Million Besucher wollten die Gemälde des Jahrhundertmalers sehen. Die Ausstellung hat sämtliche Besucherrekorde übertroffen und sogar Monet und Dürer hinter sich gelassen. Van Gogh, der in nur einem Jahrzehnt mehr als 800 Werke schuf, der auf besondere Weise mit Stil Farbe experimentierte und zum Vorbild vieler Künstler wurde, vermag noch immer die Menschen zu faszinieren. Die Ausstellung ging der Frage nach, wie das von Legenden und Halbwahrheiten geprägte Bild von Vincent van Gogh entstand - und wie er zum Megastar wurde. Die Hessenschau nannte ihn gar "den berühmtesten Maler der Welt".

"Van Gogh Alive" in Hamburg

"Van Gogh Alive" heißt eine außergewöhnliche Multimedia-Ausstellung, die ich im März 2022 besuchte. Sehr beeindruckend wurden hier Reproduktionen von berühmten Van Gogh Gemälden auf riesige Leinwände projiziert und in Szene gesetzt: Man tauchte förmlich ein in eine andere Welt, fühlte sich mittendrin in einer Komposition aus Licht, Farben, Klängen und Düften, die für eine kurze Zeit mit der realen Welt draußen nur wenig zu tun hatte. Eine hochinteressante Reise durch die Schaffenszeit Vincent van Goghs, die Kunst auf eine völlig neuartige Weise erfahrbar macht.

Das Highlight: Sternennacht - da fliegen Kometen durch die Luft.

 

Obwohl unzählige Psychiater versucht haben, van Goghs Seele noch lange nach seinem Tod zu ergründen, ist dies bis heute niemandem so recht gelungen.

Die Legende setzt sich fort ...